Ein Kommentar von Florian Bogel
Der Fall Lina E., welchen die Bundesanwaltschaft im Rahmen eines selbstinszinierten Staatstheaters zum linksradikalen Terror aufplustern will, ist in Wirklichkeit nicht mehr als eine Szene des radikalen Staatsumbaus, wie dieser hierzulande in bester Tradition steht.
Der Popanz vom staatsfeindlichem Linksterrorismus im Innern ist im faulenden Spätkapitalismus ebenso notwendig wie das leidige Schreckgespenst vom militärisch aggressiven Russen, der nichts besseres zu tun hat, als Einfälle in das Nato-Gebiet vorzubereiten, wovon dieser freilich militärisch abzuhalten ist. Doch mit diesem äußeren Feind wollen wir uns in diesem Text nicht befassen.
Am 5. Nov 2020 wurde die Leipziger Antifaschistin Lina E. im Stadtteil Connewitz durch das LKA Sachsen im Auftrag der Generalbundesanwaltschaft (GBA) verhaftet. Lina E. werden schwerer Landfriedensbruch, gemeinschaftlich schwere Körperverletzung und räuberischer Diebstahl zur Last gelegt.
Wohl interessanter für die GBA dürfte sein, dass man Lina E. »militante linksextremistische Ideologie, die eine Ablehnung des bestehenden demokratischen Rechtsstaates, des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung sowie des staatlichen Gewaltmonopols beinhaltet« (ND zitierte am 06.11.2020) andichten kann. Dieser Umstand nämlich taugt für das Staatstheater, mit welchem man den Popanz vom staatsfeindlichen Linksterrorismus vulganisieren kann.
Im faulendem Spätkapitalismus der westlichen Wertegemeinschaft, die zunehmend das globale Hegemon über ehemalige Kolonialgebiete und damit den privilegierten Zugriff auf notwendige Ressourcen – vor allem auf Rohstoffe – verliert, kumulieren sich die Krisen, welche die kapitalistische Produktionsweise – einziges Produktionsziel ist die Erwirtschaftung von Profit – zunehmend radikal in Frage stellt.
In diesem Kontext erscheint der Umbau des Staates, welcher den Klassenkampf durch politische Demokratie zu beruhigen und zu verschleiern sucht, notwendig. Aktuell zeigt sich in der Corona-Krise, dass die von der Wirtschaft losgelösten politisch-demokratischen Institutionen untauglich sind, gesellschaftliche Herausforderung und Erfordernisse zu bewältigen. Mit Blick auf die anwährende Klimakrise mit allen bereits eingetretenen und noch zu erwartenden Folgen will man sich das nahende Chaos gar nicht vorstellen.
Nicht erst jetzt dürfte für die Kapitalistenklasse klar sein, im bestehenden Staatsgebilde – mit der zwar kostengünstigeren Methode der Demokratie – kann die Herrschaft kaum noch aufrecht erhalten werden. Die im Kapitalismus bestehenden Widersprüche lassen sich zunehmend nicht demokratisch legitimieren und noch weniger vermitteln. Damit muss das Interesse der herrschenden Klasse zunehmend an einer totalitären Form des Staatsgebildes bestehen. Mithin ist der Staat reaktionär umzubauen.
Im Folgenden wollen wir uns einige Beispiel anschauen, die zeigen, wie der Herrschaftsanspruch der Bourgeoisie, welcher durch reaktionäre Gesetzgebungen aufrecht erhalten werden soll, mit unverhältnismäßig marginalen wirklichen oder konstruierten Einzeltaten vergegenständlicht wird.
Karlsbader Beschlüsse von 1819
Anfang des 19. Jahrhunderts war der noch vorherrschende deutsche Adel an verschiedenen Höfen von Revolutionsangst durch liberale und nationale Tendenzen geplagt. Da kam die Ermordung des Schriftstellers und russischen Generalkonsuls August von Kotzebue am 23. März 1819 durch den Theologiestudenten und Erlanger/Jenaer Burschenschafter, Karl Ludwig Sand, gerade genehm, um den Ängsten des deutschen Adels und aufstrebenden Bürgertums politisch Rechnung zu tragen.
Zur Überwachung und Bekämpfung benannter Tendenzen wurden noch im selben Jahr die Karlsbader Beschlüsse des Deutschen Bundes durchgesetzt. In der Folge kam es zu Verfolgungen und Inhaftierungen von z.B. Ernst Moritz Arndt, Karl Marx, Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Hans Ferdinand Maßmann, Franz Lieber, Christian Sartorius, Georg Büchner, Fritz Reuter, Friedrich Ludwig Jahn, Karl Theodor Welcker, Friedrich Gottlieb Welcker u.a.m..
Sozialistengesetze
Mit zunehmender kapitalistischer Produktion und der damit einhergehenden Ausweitung des Proletariats, welches sich zusehends zusammenschloss, um seine gemeinsamen Interessen gegenüber der Bourgeoisie durchzusetzen, galt es aus deren Sicht den machtvoller werdenden Institutionen des Proletariats entgegenzutreten.
Im Jahre 1878 wurden zwei erfolglose Attentate auf den deutschen Kaiser Wilhelm I. verübt. Bismarck nahm diese Einzeltaten zum Vorwand, um gegen das stärker werdende Proletariat mit den Sozialistengesetzen vorzugehen. In dessen Folge wurden sozialistische, sozialdemokratische, kommunistische Vereine, Versammlungen und Schriften, deren Zweck der Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung nach Auffassung der herrschenden Klasse sei, verboten.
Reichstagsbrand 1933
»Über den „Spiegel“ betrieben SS-Angehörige ihre öffentlichen Rehabilitierung, den packenden Stoff, den das Dritte Reich nun einmal garantierte, erhielt das Magazin von der verschworenen Himmler-Garde frei Haus geliefert.«[i]
Den Historiker Fritz Tobias, welcher Kontakte zum „Spiegel“ unterhielt, bugsierte der britische Secret Intelligence Service (SIS) Ende 1945 in das niedersächsische Innenministerium, »wo er im Auftrag der Engländer hohe SS-Offiziere verhörte. Hintergrund: Tobias sollte dem SIS kompetente NS-Nachrichtendienstler empfehlen … „Beutedeutsche“ konnten ihre Karriere also übergangslos fortsetzen. Tobias zur Seite im Innenministerium in Hannover stand Fritz Zirpins, SS-Sturmbannführer im Reichssicherheitshauptamt, Amt IV („Gegnererforschung und -bekämpfung“), der den Reichstags-„Brandstifter“ Marinus van der Lubbe vernommen hatte. Aus dieser zufälligen Konstellation schlug Rudolf Augstein mit seiner spektakulären „Spiegel“-Serie über den Reichstagsbrand Kapital („Stehen Sie auf, van der Lubbe“).«[ii]
Wer den zeitlichen Abfolgen, welche in der benannten „Spiegel“-Serie dokumentiert wird, folgt, fragt sich unwillkürlich, wie ein Einzeltäter in ca. 10 Minuten das ganze Gebäude bereits an mehreren Stellen umfassend anbrennen konnte, wobei van der Lubbe – warum auch immer – sogar seinen Pass mit sich führte, während er verwirrt und mit nacktem Oberkörper im brennenden Reichstag angetroffen worden ist.
»Hitler musste die Kommunisten zu diesem Zeitpunkt politisch durchaus noch fürchten. … Immerhin hatten sich bei den letzten Wahlen sechs Millionen Wähler hinter die rote Fahne mit Hammer und Sichel gestellt.“«
Nun sah Hitler im Reichstagsbrand den Aufstand gegen sich gekommen. Inwieweit dieses Hirngespinst real oder schauspielerisch aufgesetzt ist, wird nicht überliefert, jedoch die Konsequenz, nämlich die Ausschaltung seiner politischen Feinde, indem er noch vor Ort befahl: »Es gibt jetzt kein Erbarmen; wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht. Das deutsche Volk wird für Milde kein Verständnis haben. Jeder kommunistische Funktionär wird erschossen, wo er angetroffen wird. Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht aufgehängt werden. Alles ist festzusetzen, was mit den Kommunisten im Bunde steht. Auch gegen Sozialdemokraten und Reichsbanner gibt es jetzt keine Schonung mehr!«
Der §129 StGB
»1822 wurden erstmals Vereinigungen wegen „revolutionärer Umtriebe und demagogischer Verbindungen“ verboten und ihre Mitglieder verfolgt. Ähnliches gab es rund um die bürgerliche Revolution von 1848, die eine demokratische Republik zum Ziel hatte. 1871 schaffte das Reichsstrafgesetzbuch mit dem §129 eine Vorschrift gegen staatsfeindliche Vereinigungen. Stütze der politischen Verfolgung im deutschen Kaiserreich sind die sog. „Sozialistengesetze“ von 1878 bis 1890, welche der Bekämpfung und Illegalisierung der damals revolutionären Sozialdemokratie dienten.«3
Nun soll Lina E. Teil einer kriminellen Vereinigung nach dem Paragraf 129 sein.
Bereits eine Perücke, zwei Hämmer und die Messenger-App Signal genügten der GBA, um Lina E. medienwirksam mit dem Hubschrauber zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe zur Vorführung zu verbringen.
»Denn Lina E., eine 26-jährige Studentin aus Leipzig, sitzt seit fünf Monaten in Untersuchungshaft. Ihr wird vorgeworfen, an zwei Angriffen auf Neonazis im Thüringer Ort Eisenach beteiligt zu sein. Außerdem – so die Bundesanwaltschaft, die den Fall an sich gezogen hat – soll sie Teil einer „kriminellen Vereinigung“ sein. Grundlage ist der Paragraf 129, der oftmals bei der Vermutung auf einen politischen Hintergrund herangezogen wird.«4
Insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Behandlung der Tat der Lina E. lässt aufhorchen. Während Lina E. für den Generalbundesanwalt »die Anführerin eines hochorganisierten linken Schlägerkommandos«5 ist, bemerkt die TAZ zurecht das Missverhältnis zur Behandlung von Tätern aus dem rechtsextremen Milieu oder welche gar im Staatsdienst befindlich sind:
»Wenn ein KSK-Soldat in Sachsen Waffen und Sprengstoff in seinem Garten versteckt, auf seinem Telefon Kontakte zu Preppern sowie SEK-Beamten gefunden werden und er privat gerne mal Nazi-Devotionalien sammelt, dann wird dieser zu zwei Jahren Bewährungsstrafe verurteilt. Wenn Hunderte bewaffnete Neonazis einen Stadtteil zerlegen, dabei zahlreiche Geschäfte und Autos demolieren und Menschen angreifen und es veröffentlichte Chatprotokolle gibt, die eine Absprache über den Angriff belegen, werden hier teils sogar nur Geldstrafen von 900 Euro verhängt. Eine kriminelle Vereinigung sieht hier scheinbar niemand.«
Zurecht stellt das AIB fest, dass »die Strafverfolgungsbehörden mit freundlicher Unterstützung der meisten Medien eine Stimmung zu schüren, die sich gegen antifaschistisches Engagement und linke Ideen im Leipziger Stadtteil Connewitz richtet. Das hiesige Verfahren stellt dabei keinen Einzelfall dar. In der Vergangenheit wurden mehrfach Ermittlungen nach den Paragrafen 129 StGB gegen Antifaschist_innen unter Einsatz von Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) und Observationen durchgeführt. Die Betroffenen erfuhren meist erst Monate oder Jahre später davon, zusammen mit der Mitteilung, dass die Ermittlungen zu keinem Ergebnis geführt haben.«
Es bleibt zur resümieren, dass das Staatstheater im Fall Lina E. nur im Kontext des reaktionären Staatsumbaus verständlich wird und dem Konstrukt eines imaginären linken Feindes im Innern dient, welcher eben den reaktionären Staatsumbau zu rechtfertigen hat. Doch der vorgeschobene Grund Lina E. soll nur den Vorstoß der Bourgeoisie im Klassenkampf gegen die subalternen Klassen verschleiern helfen.
Wer also dem Staatstheater aufmerksam folgt – und es wird noch lange nicht der letzte Akt gewesen sein – durchblickt sehr schnell die wahre Szenerie, die so alt wie die Bourgeoisie ist, und erkennt: Der Kaiser ist nackt! Und Lina E. ist ein willkommenes Bauernopfer, deren unmittelbare Freiheit von dieser Stelle aus gefordert wird: Freiheit für Lina!
[i] Koch, Peter-Ferdinand, »Enttarnt«, Ecowin Verlag, Salzburg, 2011, 1. Auflage, ISBN 978-3-7110-0008-8, S. 218
[ii] Ebd., S. 219
[iii] „Rechtsstaat sieht anders aus“, S. 6 ff
[iii] „Vorverurteilt“, TAZ v. 29.3.21
[iii] „Freiheit für Lina“, AIB v. 28.3.21ö